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Berliner Zeitung

Und der Rechtsstaat rutscht einem 
unterm Hintern weg


Von Christian Rakow


Ja, ein schöner "Don Karlos" von Schiller auf den städtischen Bühnen
hätte vielleicht auch sein Gutes. Aber wie heißt es schon in den ersten
Minuten dieser Premiere am Donnerstagabend: "Es wäre doch absurd.
Im Theatersessel zu sitzen und auf der Bühne so: ,Hohoho, Sir, geben
Sie Gedankenfreiheit' - und gleichzeitig rutscht einem der Rechtsstaat
unterm Hintern weg." Also wird heute am Theater unterm Dach nicht
Schiller gespielt, sondern Kleists "Michael Kohlhaas", eine Novelle, 1810
unter napoleonischer Besatzung geschrieben, die zum Wegrutschen des
Rechts viel zu erzählen hat. Kleist blickt zurück in die Reformationszeit,
ins durch Zollschranken zerklüftete Deutsche Reich: Der Junker Wenzel
von Tronka hat dem reisenden Pferdehändler Kohlhaas zwei stolze
Rappen unrechtmäßig entzogen und in Feldarbeit zugrunde gerichtet.
Kohlhaas klagt auf Wiedergutmachung, doch die Gerichte sind durch
Vetternwirtschaft verfilzt. Als die Anrufung der Instanzen bald zur Farce
verkommt, greift Kohlhaas nach dem Schwert und zieht mit einer Horde
Bauern brandschatzend durch die Lande gegen Junker von Tronka.
Kleists große Erzählung über die Normativität staatlicher Gerichtsbarkeit
und die Legitimität individueller Rechtsansprüche ist auf deutschen
Bühnen seit Jahren beheimatet, klassischerweise in der Bearbeitung von
Adolf Dresen. Regisseurin Anja Gronau hat sich eine eigene Fassung
geschaffen: "Kohlhaas. Hiermit kündige ich als Staatsbürger" ist ein
Monolog, der vereinzelt auch fremde Figurenrede zitiert. Auf der Bühne
sehen wir den "rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten" Helden
als Frau. Ein solches Eine-Frau-Spiel hat Gronau schon in ihrer
preisgekrönten "Trilogie der klassischen Mädchen" (Käthe, Johanna,
Grete) verfolgt. Es in der Freien Szene allemal ungewöhnlich, weil
Akteure, die es über gute eineinhalb Stunden schaffen, ein Publikum
ohne Ermüdungserscheinungen durch kanonische Texte zu navigieren,
hier beileibe nicht im Überfluss vorhanden sind. In Renate Regel besitzt
Gronau wieder eine solche tragfähige Spielerin. Vital, launig, mit
raumgreifendem Frontalspiel führt sie ihren Kohlhaas in den Aufstand:
"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!" Spätestens
mit dieser Brecht-Einlassung aber fängt der Abend an zu holpern, nicht
schauspielerisch, sondern intellektuell. Gronau probiert, durch gezielte
Modernisierungen gleichnishaft auf etwaige heutige Machtwillkür zu
deuten. Doch bürdet sie der Kleist-Fabel damit zu viel auf. Da mögen
noch so denunziatorisch Verfassungsrichter auf der Videowand im
Bühnenhintergrund erscheinen, da mag das Grundgesetz als "Witz"
verschaukelt oder regelmäßig auf die "Eliten" angespielt werden, die
Kohlhaas' Gerechtigkeitssuche behindern. Es gibt nun einmal strukturelle
Unterschiede zwischen demokratischer Judikative und autoritärer
Obrigkeitsstaatlichkeit. Und Proteste wie die um Stuttgart 21 oder gegen
längere AKW-Laufzeiten sind Ausdruck von gesellschaftlichen
Interessenkonflikten, nicht eine Reaktion auf juristische Unterdrückung.
Weil Gronau ihrem aktualisierenden Budenzauber anscheinend selbst
nicht recht Glauben schenkt, schickt sie ihre Schauspielerin auch eher 
halbherzig in die Rebellion. Mit Frohnatur geht Renate Regel Kohlhaas
wie eine engagierte Eingabenschreiberin an, eh sie den Griff nach der
Waffe zur Don-Quichotterie verjuxt - mit Bart und Blecheimer auf dem
Kopf (Ausstattung: Mi Ander). Kleists romantisch übersinnliches Finale
der Erzählung wird aus einem Biedermeierlehnstuhl mit einem
Märchenbuch auf dem Schoß rekapituliert. Das ist die Vergemütlichung
des Kohlhaas. Und das, wo man ihn doch eigentlich als Street Fighting
Man voran schicken wollte. ----------------------- Kohlhaas. Hiermit
kündige ich als Staatsbürger wieder am Sa/So (16./17. 10.) jew. 20
Uhr, Theater unterm Dach, Danziger Str. 101, Tel.: 902953817. ---------
--------------------- Foto: Wo Widerstand zur Pflicht wird: Renate Regel
als Michael Kohlhaas